9 Mythen, die dich von dir fernhalten – Teil 2
Im ersten Teil dieser Reihe hast du fünf innere Mythen kennengelernt, die dich unbewusst klein halten und von deinem wahren Selbst trennen können. Heute geht es weiter mit vier tief wirkenden Glaubenssätzen – und was du über sie wissen solltest, wenn du dich dir selbst wieder näher fühlen möchtest.
6. »Ich muss erst perfekt sein, bevor ich mich zeigen darf.«
Der Anspruch an sich, erst perfekt sein zu müssen, bevor wir uns zeigen dürfen, bevor wir eigene Bedürfnisse anmelden können, bevor wir liebenswert sind – der ist eng verbunden mit dem Mythos, dass wir nur dann wertvoll sind, wenn wir leisten und zwar perfekt. Vielleicht kennst du diesen Satz als zähen inneren Anspruch: Du kannst dich erst dann zeigen, wenn du perfekt bist. Erst dann, wenn du genug weißt, genug kannst, alles durchdacht und vorbereitet hast. Dann, ja dann wirst du sichtbar. Vielleicht. Irgendwann.
Perfektion ist kein Zugang zu dir – Echtheit schon.
Übrigens bedeutet ein hoher Perfektionsanspruch an uns nicht automatisch, dass wir tatsächlich perfekt sind, immer ordentlich, alles zu Ende machen, immer wie aus dem Ei gepellt sind. Der innere Anspruch an Perfektion kann uns manchmal davon abhalten, etwas bestimmtest überhaupt erst anzufangen. Er kann auch dazu führen, dass wir frustriert abbrechen, wenn wir unseren eigenen Ansprüchen nicht genügen.
Sich zu zeigen – was bedeutet das eigentlich? Es kann vieles sein: sich mit etwas zeigen, was wir geleistet haben, zum Beispiel beruflich; sich mit einem Talent oder einer Gabe von uns zeigen; Gefühle von sich zeigen oder ein Bedürfnis äußern. Wenn wir glauben, wir müssten erst perfekt sein, bevor wir uns zeigen dürfen, dann zeigen wir uns entweder gar nicht, oder schieben es immer weiter hinaus – in der Hoffnung, irgendwann genügend Beweise dafür zu haben, dass wir auf etwas stolz sein dürfen, dass wir etwas können, dass wir wertvoll sind, dass wir etwas zu sagen haben.
Sichtbarkeit beginnt nicht mit Beweisen. Sie beginnt mit einem Ja zu dir.
Der Ursprung dieses Mythos liegt – wie so oft – in gesellschaftlichen oder familiären Prägungen. Perfektion erscheint uns als sichere Schutzmauer gegen Kritik, Ablehnung oder Versagen. Doch sie trennt uns nicht nur von der Angst oder dem Gefühl nicht zu genügen, sondern auch von der Verbundenheit – zu uns selbst und zu anderen. Was diesen Mythos sprengen kann, ist zweierlei: Die liebevolle Hinwendung zu dem in dir, das sich nicht wertvoll fühlt, nicht gut genug – und das mutige Hineinspringen ins Ungewisse – dass du dich zeigst, bevor du sicher bist, dass du wirklich schon »gut genug« bist.
Schlussendlich berührt deine Echtheit – nicht deine Perfektion oder Fehlerlosigkeit. In deiner Echtheit bist du mit dir verbunden. Mit dem, was du kannst, deinen Gaben und Talenten, genauso wie mit dem, wo du dich noch weiterentwickeln kannst, noch etwas Übung brauchst.
7. »Ich habe doch alles – warum reicht das nicht?«
Diesen Gedanken kenne ich selbst von früher – und auch von vielen Menschen, die ich auf dem Weg nach Hause zu sich begleite: dieses Gefühl einer inneren Leere, einer ungreifbaren Unzufriedenheit, obwohl man doch »alles« hat, vielleicht sogar erfolgreich ist. Dann empfinden wir uns oft als undankbar. Oder wir halten uns für zu kompliziert. Zu anspruchsvoll.
Diese innere Leere, dieses Nicht-satt-Werden an dem, was wir haben, ist ganz häufig mit sehr frühen Bindungsthemen verbunden – oft auch mit Bindungstraumata. Wenn ich hier von Trauma spreche, dann meine ich nicht zwangsläufig offensichtliche Vernachlässigung oder körperliche Übergriffe. Bindungstrauma kann auch entstehen, wenn wir emotional nicht gehalten wurden. Vielleicht hatten wir als Kinder alles: gutes Essen, warme Kleidung, eine gute Schulbildung, Unterstützung für unsere Talente und Hobbys – die scheinbar perfekte Kindheit.
Das Außen war da – aber das Innen blieb leer.
Wenn unsere Eltern jedoch für uns nicht emotional greifbar waren – wenn wir nicht mit all unseren Gefühlen gehalten, gesehen und gespürt wurden – wenn wir nicht erfahren haben, dass wir mit all dem liebenswert und wertvoll sind, dann entsteht ein inneres Loch. Das Tragische an solchen stillen, unsichtbaren Bindungstraumata ist, dass wir uns als Erwachsene oft selbst dafür kritisieren, warum wir denn nicht glücklicher sind, nicht besser funktionieren – immerhin hatten wir doch eine »gute Kindheit«, oder? Und heute scheint ja auch alles in Ordnung zu sein.
Du funktionierst. Du hast viel. Und doch fehlt etwas – weil etwas Entscheidendes nie da war.
Tatsächlich fehlt es bei diesem Glaubenssatz nicht an äußeren Dingen. Es fehlte damals an nährender, liebevoller, co-regulierender Verbindung, an stillen Momenten, in denen wir liebevoll in den Arm genommen wurden. Da war zu wenig Spiegel für unsere Gefühle, zu selten haben wir ehrlich gehört »Kleines, was ist grad los mit dir, du schaust traurig aus?«. Vielleicht lag unter einer äußeren Freundlichkeit eine emotionale Kühle, die uns innerlich frieren lies. Und heute fehlt oft die Verbindung zu uns selbst. Was damals gefehlt hat, lässt sich nicht mit Leistung oder Besitz füllen – sondern nur mit dem Aufbau einer liebevollen Beziehung zu dir selbst, mit innerer Nähe und Wärme.
8. »Ich bin zu viel – oder nicht genug«
Mit diesem inneren Mythos kommen wir nie wirklich in uns selbst an. Wir finden keinen Platz, der sich sicher anfühlt. Stattdessen ist da ein tief verwurzeltes Gefühl von Ambivalenz. Mal fühlen wir uns überfordernd für andere, zu laut, zu raumeinnehmend, zu emotional. Und dann wieder fühlen wir uns unsichtbar, nicht gut genug – und ziehen uns zurück.
»Zu viel« und »nicht genug« sind zwei Seiten derselben Wunde.
Das Gefühl, zu viel zu sein, hast du vielleicht gelernt, wenn deine Bezugspersonen mit deinem natürlichen Ausdruck überfordert waren. Wenn ein Elternteil oft krank war, oder zu Hause gearbeitet hat, und du ständig Rücksicht nehmen musstest. Wenn deine lebendige, kindliche Energie zu laut, zu viel, zu störend war. Auch unsere Gesellschaft reagiert oft mit Ablehnung auf ungebändigte, kindliche Lebendigkeit – und stärkt damit den Mythos: Ich bin zu viel.
Das Gefühl nicht zu genügen ist kein Zeichen von Schwäche – sondern ein Hinweis auf alte Wunden, die Heilung brauchen.
Die andere Seite – das Gefühl, nicht genug zu sein – kann auch mit frühen Bindungstraumata zusammenhängen, mit bewussten oder unbewussten Erfahrungen, nicht gewollt zu sein, nicht zu passen.
Dieses Gefühl entwickeln wir, wenn wir oft kritisiert werden oder erlebt haben, mit anderen verglichen und für ungenügend befunden zu werden. Oft tragen auch Menschen diesen Glaubenssatz in sich, die erstmal tatsächlich ungewollt waren oder deren Eltern sich statt eines Jungen ein Mädchen gewünscht haben, oder umgekehrt. Auch frühe Trennungserfahrungen in der frühen Kindheit vermitteln dem Kind unbewusst nicht gewollt zu sein, also irgendwie falsch oder nicht gut genug. Wir brauchen keine bewussten Erinnerungen, um diesen Glaubenssatz zu entwickeln. Unser ganzes System – Körper, Nervensystem, Empfinden – speichert diese Erfahrungen ab.
Die Wahrheit ist, dass du genau richtig bist – in deiner Tiefe, Fülle und Ganzheit. Wenn du beginnst das wirklich in dir zu spüren, dann wird dein laut sein auch nicht zu laut sein müssen, dann wird dein leise sein auch kein unsichtbar werden sein müssen – dann bist du einfach: mit allem, was dich ausmacht.
9. »Ich muss funktionieren, sonst bricht alles zusammen.«
Ja, du hältst vieles zusammen, in der Familie, im Job, deine eigenen Emotionen und vielleicht glaubst du, dass du keine Pause machen darfst. Manchmal fühlen wir uns getrieben, haben das Gefühl, wir müssten alles alleine halten und dann finden wir uns in einem Hamsterrad wieder, das uns eventuell irgendwann in die völlige Erschöpfung treibt.
Wenn du nur noch im Funktionieren bist, geht dein innerer Kontakt verloren.
Dieser Mythos hat oft seine Wurzeln in einer Übernahme von Verantwortung schon in der Kindheit: Vielleicht musstest du schon als Kind zu früh selbstständig sein. Vielleicht warst du das »vernünftige« Kind, das die Rolle der Familiendiplomatin übernommen hat. Manchmal können Eltern auf Grund ihrer eigenen Erfahrungen und emotionalen Wunden nicht so präsent sein, wie wir es bräuchten und dann gehen wir in die Verantwortung, dann übernehmen wir die Elternrolle. Und vielleicht hast du irgendwann begonnen, dich mit genau dieser Rolle zu identifizieren: Wir sind diejenige, die alles zusammenhält, ohne die nichts geht.
Langfristig ist das unglaublich anstrengend und es ist vor allem nicht wahr. Auch wenn es Mut braucht, den ersten Schritt zu machen: wenn wir uns zurücknehmen, auch mal „Nein“ sagen, uns erstmal um uns selbst, statt um andere kümmern, stehen oft unerwartet andere auf und übernehmen. Und wenn es nicht geschieht und etwas wirklich auseinanderfällt – dann ist das vielleicht sogar richtig und gut so. Denn wenn wir etwas nur mit höchster Anstrengung und Dauereinsatz aufrechterhalten können – hat es dann wirklich einen nährenden Wert für uns?
Schlussgedanken
Diese Mythen und inneren Glaubenssätze halten uns oft unbewusst in einem inneren Käfig, färben unsere Sicht auf die Welt und uns selbst. Sie halten uns von uns selbst fern, von unseren wahren Gefühlen, Gaben, Bedürfnissender Bandbreite unserer Seinsschönheit. Vielleicht hast du für dich erkennen können, dass diese Glaubenssätze nicht »die Wahrheit« sind, sondern Schutzstrategien, übernommene Konditionierungen, die wir in Reaktion auf bestimmte Erfahrungen haben übernehmen müssen, um weiter zu funktionieren und zu überleben. Aber heute halten sie uns oft klein oder von uns selbst fern.
Dein wahres Selbst ist so viel größer als all diese Mythen zusammen!
Erlaube dir, dich größer zu sehen, erlaube dir, neue Wahrheiten über dich zu fühlen:
♡dass du gut bist, so wie du bist
♡ dass du Pausen machen darfst
♡ dass du um Hilfe bitten darfst, weil du stark bist
♡ dass deine Echtheit und Unvollkommenheit berührt und kostbar ist
♡ dass du dich selbst liebevoll halten darfst.
Erlaube dir, dich neu zu sehen. Sanfter. Weiter. Wahrer. Erlaube dir, neue innere Wahrheiten zu fühlen: Wenn du spürst, dass du diesen Weg nicht alleine gehen möchtest, begleite ich dich gern.
Ein guter erster Schritt: Ein ganz schöner Einstieg, um einen der Grundmythen achtsam und liebevoll zu lösen, ist mein 21-Tage-Kurs „Du bist genug – Tieftauchen in Selbstakzeptanz« Mehr dazu findest du gleich hier: annafienbork.de/du-bist-genug
Das Foto zu diesem Blogbeitrag habe ich ausgewählt, weil es für mich verbildlicht, das der Weg aus Enge und Eingeschränktsein immer in die Weite und ans Licht führen kann.