23.9.2025

9 Mythen, die dich von dir fernhalten – Teil 1

Was Mythen mit dir und deinem inneren Verbundensein zu tun haben Was sind eigentlich Mythen, wenn es um uns, unser Fühlen und unser Sein geht? Und wie kann es sein, dass uns ein Mythos klein hält oder uns von uns selbst entfremdet?


Wenn wir an Mythen denken, kommen uns meist alte Sagen in den Sinn: Herkules, die Nibelungen, Geschichten voller Symbolik und Bedeutung. Sie wollen keine historischen Fakten liefern, sondern eine tiefere Wahrheit transportieren, die Welt deuten und Leben erklären.


Wenn wir im Alltag »Mythen« sprechen, dann meinen wir damit: »Das ist doch Unsinn« oder „Das ist überholt“. Doch es gibt noch eine andere Kategorie: innere Mythen – tiefliegende Überzeugungen darüber, wie wir zu sein haben, um gut, richtig oder wertvoll zu sein. Auch sie sind nicht wirklich wahr, haben aber oft eine sehr mächtige Wirkung.

Es ist keine Schwäche, falsche Überzeugungen in sich zu entdecken – im Gegenteil: es ist der erste Schritt zurück zu dir.

Diese Mythen wirken oft unbewusst, aber tief – sie formen unser Selbstbild, unser Nervensystem, unsere Beziehungen. Hier stelle ich dir fünf innere Mythen vor, die dich von dir selbst fernhalten – und was darunter liegt.

1. »Ich bin nur wertvoll, wenn ich etwas leiste.«

Oft ist dieser Glaubenssatz so tief in uns verankert, dass wir ihn gar nicht als Mythos erkennen. Vielleicht spürst du ihn daran, dass du dich nur dann gut oder wertvoll fühlst, wenn du etwas tust – wenn du »produktiv« bist. Sobald du innehältst oder einfach mal nichts tust, wird es schnell unruhig in dir. Vielleicht meldet sich eine leise Stimme, die dir sagt: »Du bist faul«, oder: »So bist du nichts wert«.

Wenn unser Selbstwert an Leistung geknüpft ist, wird Innehalten zur inneren Bedrohung.

Und wenn wir uns dann doch eine Pause nehmen, schleichen sich vielleicht Gefühle ein wie ein diffuses Nicht-genug-Sein, Traurigkeit oder sogar Angst. Doch in einer Leistungskultur haben diese Gefühle kaum Raum. Stattdessen sollen sie überwunden oder verdrängt werden – weil sie nicht »funktional« sind.


Der Ursprung dieses Mythos liegt häufig in zwei Quellen: in unserer gesellschaftlichen Prägung und in familiären Erfahrungen. Vielleicht gab es Liebesentzug oder Kritik, wenn du nicht »gut genug« warst. Vielleicht spürtest du die stille Enttäuschung eines Elternteils, wenn du nicht den Erwartungen entsprochen hast.


Das Problem ist, dass ganz oft unser Tun und unser Sein als Eins gesehen werden, verwechselt werden. Kinder können noch nicht unterscheiden, dass ihr Verhalten bewertet wird – nicht ihr Wesen. Mit der Zeit führt das dazu, dass wir uns als Erwachsene nie wirklich »genug« fühlen, solange wir nicht leisten. Da Kinder auch einfach sehr treffsichere Trigger für unsere eigenen, noch nicht integrierten Themen sind, können wir als Erwachsene im Umgang mit Kindern selbst leicht in unserem inneren verletzten Kind lande. Dann haben auch wir nicht den Raum dafür, den Unterschied zwischen Tun und Sein zu halten. Sätze wie »das ist nicht gut genug«, »das kannst du doch besser«, »das muss besser gehen«, landen dann im Kind als »ich BIN nicht gut genug«. So lernen wir oft schon früh, uns anzustrengen und zu leisten, um irgendwann hoffentlich wertvoll und gut genug zu sein. 

Leistung kann dich nähren – aber nur, wenn sie aus deinem Selbstwert entspringt

Erst wenn du tief in dir fühlst, dass du gut bist, egal ob du etwas leistest oder nicht, kann dein Tun eine Quelle der Freude, Kraft und Selbstwirksamkeit werden – statt ein endloses Rennen nach Bestätigung.

2. »Wenn ich mich selbst wichtig nehme, bin ich egoistisch.«

Wenn du diesen Satz in dir trägst, setzt du vermutlich Selbstfürsorge und Grenzen setzen mit Rücksichtslosigkeit und Egoismus gleich. Wir gestehen uns dann nicht ein, unseren eigenen Bedürfnissen Raum zu geben oder tun dies nur sehr zaghaft und meist erst dann, wenn die Bedürfnisse aller anderen erfüllt sind.
Selbstfürsorge ist kein Rückzug aus der Beziehung – sie ist ihre Grundlage.


In Beziehungen – ob privat oder beruflich – zeigt sich dieser Mythos häufig im »sich zurücknehmen«. Bei der Arbeit übernehmen wir dann vielleicht immer auch noch das, was einer Kollegin oder einem Kollegen zu viel wird. Wenn sich für einen unbeliebten Dienst keiner meldet, melden wir uns – weil »wir können ja«.
In der Partnerschaft kann dieser Glaubenssatz dazu führen, dass wir immer erstmal fragen, was der oder die andere machen will. Typischer Weise formulieren wir dann auch oft Sätze wie »wollen wir den Weg am Fluss nehmen?«. So vermeiden wir eine konkrete Aussage dessen, was wir wollen, nämlich »ich möchte am Fluss entlang gehen«. Eine solche Aussage ist noch lange kein Befehl und natürlich können wir immer noch eine gemeinsame Lösung finden. Aber für Menschen, die sich lange selbst zurückgestellt haben, können solche klaren Ansangen ihrer Bedürfnisse und Wünsche schon eine Herausforderung sein. Sie haben gelernt, dass es sicherer ist, ihre Wünsche und Bedürfnisse zurück zu stellen.


Es kann auch sein, dass wir als Nebenwirkung dieses Mythos insgeheim ein Gefühl von »Ich bin besser als andere« entwickeln, weil wir so »selbstlos« sind. Doch diese Haltung entsteht nicht aus einem echtem inneren Selbstwert, sondern aus einem moralischen Vergleich: »Ich bin besser, weil ich mich selbst zurückstelle«. Diese Überhöhung ist meist subtil – und schwer greifbar.

Selbstfürsorge ist kein Egoismus – sie ist die Wurzel jeder echten Verbindung.

Wo nun hast du diesen Mythos gelernt? Vielleicht ist es eine bewusste oder unbewusste religiöse Prägung, die Selbstlosigkeit hochhält und »gute Taten«. In diesem Kontext sind es übrigens immer Taten für oder an anderen, niemals »gute Taten« für uns selbst. Die zählen irgendwie nicht. Oft übernehmen Mädchen und Frauen diesen Satz sehr viel stärker, weil sie ja die »Nährenden«, »die sich Kümmernden« sind. Hier ist der Ursprung des Glaubenssatzes also auch in unseren gesellschaftlichen Rollenbildern verankert.


Sehr häufig tragen auch Menschen diesen Satz in sich, die schon als Kinder angefangen haben, sich um die Eltern zu kümmern – man spricht hier auch von der Parentifizierung. Dann schauen wir als Kinder, was braucht Mama was braucht Papa, damit es ihnen gut geht und sie sich dann um mich kümmern können? Wo muss ich vorsichtig sein, dass eines der Elternteile nicht wütend wird?


Als Kind herrschen zwei Bedürfnisse vor: das Bedürfnis nach Bindung und das nach Sicherheit. Dem wird alles untergeordnet, auch das Bedürfnis nach Authentizität und authentischen Gefühlen und Bedürfnissen. Und so lernen wir oft sehr früh, unsere Gefühle, unser Tun und unsere Bedürfnisse auf unser Umfeld abzustimmen. Oft ist das so sehr zu unserer Normalität geworden, dass wir gar nicht darauf kommen, dass es anders sein könnte. Wenn wir früh gelernt haben, dass Bindung und Sicherheit nur dann bestehen, wenn wir unsere eigenen Gefühle unterdrücken, dann verinnerlichen wir genau dieses Muster. Wir stimmen unser ganzes Sein auf das Außen ab – und verlieren dabei den Kontakt zu uns selbst.



Tatsächlich beginnt wahre Fürsorge und auch das, was wir Nächstenliebe nennen, immer bei dir, bei der Fürsorge für dich und bei deiner Liebe für dich. Aus einem leeren Brunnen können wir nicht schöpfen! Aber wenn unser Seinsbrunnen überläuft von der Fürsorge für uns selbst, von Selbstakzeptanz und Selbstliebe, dann haben wir reichlich und in Hülle und Fülle zu geben.

3. »Ich sollte das alleine hinbekommen.«

So oft denken wir, wir müssten stark, unabhängig und vernünftig sein. Um Hilfe bitten? Kommt nicht in Frage – das würde Schwäche bedeuten.
Stärke zeigt sich nicht im Alleingang – sondern darin, dich in Beziehung zu zeigen.

Nicht selten haben wir gelernt, dass wir mit bestimmten Gefühlen und Herausforderungen alleine waren. So oft erzählen mir Menschen, dass sie als Kinder und Jugendliche ihren Eltern nicht erzählt haben, wenn sie in der Schule gemobbt wurden, oder wenn sie etwas verletzt und traurig gemacht hat. Eine sichere Bindung würde selbstverständlich dazu führen, dass ein Kind sich in heraufordernden Situationen an seine Eltern wendet. Dann hätten wir auch gelernt, dass es OK ist, sich Hilfe zu holen, dass es nicht schwach ist oder mit Versagen gleichgesetzt wird. Stattdessen entwickeln den Glauben: Ich muss da alleine durch.
 
Dieser Mythos kommt oft verstärkt bei Jungs und Männern vor, denn »ein Indianer kennt keinen Schmerz«. Auch wenn sich das beginnt zu ändern, ist diese kulturelle Prägung in der Gesellschaft noch vorhanden.


In Partnerschaften zeigt sich dieser Mythos oft so: Man spricht erst über ein Problem, wenn man es schon selbst gelöst hat – um zu „beweisen“, dass man es alleine geschafft hat.

Doch Verbindung und Entwicklung entstehen im sicheren Kontakt und Austausch – nicht im Alleingang. Das Leben ist immer zyklisch – es gibt Phasen, in denen wir etwas allein durchfühlen müssen, aber dann braucht es auch wieder Begegnung, Austausch und Co-Regulation.

4. »Ich darf nicht zu sensibel sein – das ist Schwäche.«

»Stell dich nicht so an«, »Du bist aber auch empfindlich«, »Du hältst ja gar nichts aus« – solche Sätze brennen sich tief ein. Sie vermitteln, dass Sensibilität etwas ist, das man loswerden oder kontrollieren muss.


Vielleicht hast du gelernt, dass deine Gefühle »zu viel« sind. Dass deine Betroffenheit anstrengend ist. Dass du deine feinen Antennen besser ignorierst. Kann es sein, dass wir manchmal überreagieren? Natürlich, aber dann kommt diese Reaktion meistens aus einer inneren Verletzung, von einem inneren Kind, das auf eine heutige Situation scheinbar überreagiert.

Feinfühligkeit braucht Schutz – nicht Unterdrückung.

Kommt ein Gefühl der Überforderung manchmal von der sehr frühen, tatsächlichen Überforderung, sich als Kind selbst regulieren zu müssen – weil die Eltern gerade zu überfordert oder beschäftigt waren? Selbstverständlich. Deshalb ist es gerade hier so wichtig zu unterscheiden: wo bin ich tatsächlich gerade überfordert, wo ist meine Reaktion vielleicht relativ zum Geschehen etwas zu stark. Wenn ein altes Gefühl der Überforderung getriggert wurde, dann sind wir deshalb nicht falsch oder schwach. Es gibt uns die Möglichkeit uns selbst da abzuholen, wo wir früher nicht abgeholt wurden und dann auf die entsprechende Situation mehr von einem erwachsenen Herzensplatz heraus zu reagieren.
 
Feinfühligkeit und Sensibilität sind tatsächlich Stärken – denn es bedarf innerer Kraft, um Gefühle zuzulassen. Es ist eine besondere Qualität, wenn wir feinfühlig sind – für unsere eigenen Gefühle und die anderer.
 

5. »Wenn ich mich mit meinen Gefühlen beschäftige, verliere ich die Kontrolle.«

Dieser Satz wurzelt fast immer in der frühen Kindheit. Als kleine Kinder können wir intensive Gefühle nicht allein regulieren. Wir brauchen ein sicheres, stabiles Gegenüber, das präsent bleibt, auch wenn es in uns stürmt. Dann erfahren wir das An- und Abschwellen innerer Gefühlwellen in einem liebevoll gehalten Raum. Wenn das fehlt, dann werden Gefühle zur Bedrohung.

Gefühle sind nur so überwältigend, wie wir mit ihnen allein gelassen wurden.

Vielleicht wurdest du als Baby in ein separates Zimmer gelegt, um zu »lernen«, allein zu schlafen. Vielleicht wurdest du schreien gelassen, damit du »ruhig« wirst. Oder du wurdest zu einer Zeit geboren, als es normal war, Neugeborene von der Mutter zu trennen und ins Säuglingszimmer zu legen. Dann ist es kein Wunder, wenn dein System heute in Freeze oder Angst rutscht, sobald es intensiv wird. »Brav« bedeutete damals: Du hast dich abgespalten. Du hast gelernt, dich abzustellen, um zu überleben.

Hinzu kommt unsere leistungsorientierte Welt, in der für echte Trauer, Rückzug und zyklisches Erleben kein Platz ist. Und je länger wir unangenehme Gefühle unterdrücken, desto mehr Energie braucht es – und desto größer wird die Angst, sie irgendwann nicht mehr halten zu können.

Gefühle können intensiv sein – absolut. Was sie brauchen ist ein sicherer Beziehungsraum. Du kannst heute – mit deiner erwachsenen Herzenspräsenz -  lernen, dein Nervensystem zu stabilisieren, während du dich deinen Gefühlen zuwendest.

Deine Gefühle sind keine Gefahr. Sie sind der Weg zurück zu dir.

Und es bedarf auch deines liebevollen und achtsamen Verstehens, dass all jene Anteile in dir, all jene Mechanismen – die teils schon sehr lange dafür gesorgt haben, dass bestimmte Gefühle nicht hervorkommen – natürlich Angst davor haben, die Kontrolle zu verlieren. Auch diese Schutz- und Überlebensmechanismen, diese inneren Beschützer brauchen unsere Zuwendung. 

Wenn wir dann achtsam und in einem sicheren Kontext lernen, unseren Gefühlen Raum zu geben, so wird unser Leben so viel reicher und bunter. Denn mit den unangenehmen oder als negativ empfunden Gefühlen, unterdrücken wir auch die freudigen Gefühle. Trau dich, es lohnt sich. Deine Gefühle sind ein Wegweiser zu dir, zum Verbundensein mit dir und zur Fülle deines Seins.

Ausblick

Im zweiten Teil dieser Blogreihe geht es weiter mit weiteren vier Mythen, die dich in alten Überlebensmustern festhalten – und wie du dich daraus befreien kannst.

Ein ganz schöner Einstieg, um einen der Grundmythen achtsam und liebevoll zu lösen, ist mein 21-Tage-Kurs „Du bist genug – Tieftauchen in Selbstakzeptanz« Mehr dazu findest du hier: annafienbork.de/du-bist-genug