Was klare Grenzen mit Wut zu tun haben – und warum Egoismus nicht an sich schlecht ist
Glaubst du, dass es unangemessen ist, manchmal auch eine deutliche Grenze zu setzen, ein klares Nein ohne ein besänftigendes Lächeln? Zu deinen Bedürfnissen zustehen, vielleicht sogar unfreundlich zu sein (oder vermeintlich unfreundlich!), fällt dir das schwer?
Ich kenne viele Menschen, die sich nicht leicht darin tun Grenzen zu setzen. Und einer dieser Menschen war auch ich und in manchen Situationen heute noch immer. Es gibt so viele Situationen, in denen wir eine klare Grenze setzen könnten, sei das bei der Arbeit, beim Einkaufen, mit den Kinder oder in der Beziehung. Und doch läuft es dann oft ganz anders:
➳ Dein Partner wirft dir etwas vor und bevor ihr anfangt zu streiten, lenkst du ein – auch wenn du dasGanze eigentlich anders siehst.
➳ Du hättest im Restaurant gerne einen Weißwein, die anderen lieber Rotwein, also nimmst du dann mit allen eine Flasche Rotwein, statt dir separat ein Glas Weißwein zu bestellen.
➳ Ein Freund bittet dich um Hilfe und du sagst zu, weil er dir kürzlich auch geholfen hat, obwohl du gerade überhaupt keine Zeit hast.
Ein Nein gegenüber einem anderen ist ein Ja zu dir
Woran liegt es, dass es vielen Menschen schwerfällt klar für sich einzustehen? Beim Schreiben fällt mir auf, dass Worte wie „sich abgrenzen" oder „eine Grenze“setzen hart klingen. Und genauso empfinden Menschen das auch, die sich damit nicht leicht tun. Sie empfinden es als hart, vielleicht sogar egoistisch, wenn sie für sich einstehen, sich abgrenzen, indem sie zu sich selbst Ja und damit zum anderen Nein sagen.
Eigene Grenzen zu setzen, Nein zu sagen ist ganz oft verbunden mit Glaubenssätzen und auch Ängsten. Da ist die Angst davor abgelehnt zu werden, nicht mehrgemocht zu werden oder als egoistisch betrachtet zu werden. Ganz oft bleiben wir dann lieber in Anpassungsmustern und stellen uns selbst zurück. Vielleicht lebt irgendwo in uns auch noch ein Satz aus der Kindheit wie „nimm dich nicht immer selbst so wichtig“ oder auch der Spruch „Nur der Esel nennt sich selbst zuerst“.
Warum Egoismus an sich nichts Schlechtes ist
Über das Wort egoistisch könnte ich viel schreiben. Hier sei so viel gesagt, dass es aus meiner Warte ein auf innerem Mangel und emotionalen Verletzungen beruhendes egozentrisches Verhalten gibt und einen gesunden Egoismus. Wenn wir in unserer Kindheit nicht zudem Grad von unseren Eltern in all unseren Facetten gefühlt und wirklich willkommen geheißen worden sind, wie wir es gebraucht hätten, ist in uns ein Mangel. Da fehlt ein gesehen werden, ein bestätigt werden in unserem Seinskern. Und wenn Trennungserfahrungen oder Traumata gerade in der frühen Bindungsphase dazu kommen, dann verstärkt sich dieser innere Mangel. Oft lebt es als ein Gefühl nicht gut genug sein in uns, oder als der Glaube fehlerhaft zu sein. Allerdings ist uns das nicht unbedingt immer bewusst.
Mit diesem Mangel, dieser Fehlstelle, diesem Loch in uns gibt es vereinfacht gesagt zwei Möglichkeiten umzugehen: entweder wir versuchen so gut und brav wie möglich zu sein, um endlich das zu bekommen, was uns fehlt oder wir holen uns das was uns fehlt, ohne Rücksicht auf andere. In diesem Fallstecken wir eigentlich in einer frühkindlichen Phase der „instant gratification“ fest, also der Erwartung, dass all unsere Bedürfnisse sofort erfüllt werden müssen. Auf einer frühkindlichen Ebene ist das angemessen, nur als Erwachsene ist es eigentlich nicht mehr stimmig und deutet auf ein inneres Mangelgefühl hin.
Wen nwir uns anpassen, den Fokus auf die Bedürfnisse anderer richten, dann wird das gesellschaftlich meistens als lobenswert betrachtet, wird als selbstlos gepriesen. Wobei es aus meiner Warte gar kein selbstlos gibt. Zum einen, weil da das Selbst ist, das etwas tut und zum anderen, weil wir aus allem einen Gewinn für uns ziehen, ob bewusst oder unbewusst. Wenn ich mich immer um andere kümmere, ist mein Gewinn der, dass ich damit versuche meinen Platz in der Welt zu verdienen und mich einigermaßen gut oder wertvoll zu fühlen. Allerdings wird auch die auf Mangel beruhende egozentrische Variante von „ich nehme mir was ich will“ durchaus gesellschaftlich belohnt, oft mit äußerem Erfolg. Nur das innere Loch, den Mangel wird keine der beiden Überlebensstrategien füllen können. So hetzen wir diesem Ziel immer weiter nach, manchmal bis zum Burnout.
Wir haben eine innewohnende, gesunde Erwartung, einesichere Bindung zu bekommen
Zurück zu Wut und Grenzen. Wenn wir in uns einen Mangel haben, etwas fehlt, dann ist da oft Schmerz, aber da kann auch Wut sein. Wut darüber, dass uns etwas „vorenthalten“ wurde. Wut über die Ungerechtigkeit, dass wir nicht die sichereBindung bekommen haben, die wir als Babys unschuldig erwartet haben. Es ist tatsächlich so, dass wir ein tiefes Körperwissen in uns tragen, in dem die positiven Erwartungen für die Bindung mit der Mutter angelegt sind, das Wissen um den Ablauf der Geburt und eben auch die Erwartung an eine sichere Bindung, wenn wir Mal hier auf der Welt gelandet sind. Als Erwachsene geht es nicht darum, diese Wut gegenüber den eigenen Eltern auszudrücken, sondern primär darum, sie sich selbst einzugestehen, ihr in sich selbst Raum zu geben. Gerade bei Menschen, die sich mit Wut schwer tun, ist es oft ein Zeichen von gewachsenem Selbstvertrauen und Selbstwert, wenn sie wütend werden. Denn die Wut kann nur entstehen, wenn wir es uns wert sind, etwas bestimmtes zu bekommen, oder auf bestimmte Weise behandelt zu werden.
Oft lernen wir explizit oder implizit, dass unsere Bedürfnisse doch nicht so wichtig sind, dass manche Gefühle von uns unerwünscht sind. Das verinnerlichen wir, haben dann später vielleicht Schwierigkeiten unsereBedürfnisse überhaupt wahrzunehmen und wenn doch, fällt es uns schwer dafür einzustehen. Die frühe Bindung, die körperliche Berührung, der Trost, die Co-Regulation unserer Eltern gibt uns optimaler Weise auch ein Gefühl für klare Grenzen. Wir lernen wo wir aufhören und andere anfangen. Je freier, klar und doch auch angemessen durchlässig sich unsere Grenzen entwickeln konnten, um so mehr können wir auch die Grenzen und Bedürfnisse anderer wahrnehmen und wahren, ohne unsere eigenen hintanzustellen. Dann befürchten wir bei einem Nein nicht sofort verlassen zu werden, können aber manchmal auch auf gesunde Weise unsere Bedürfnisse hintanstellen, wenn gerade das Bedürfnis eines anderen Vorrang hat. – Wobei man sagen könnte, dass wir dann vielleicht unserem Bedürfnis entsprechen, in diesem Moment jemand anderem zu helfen und somit gar kein Bedürfniskonflikt entsteht.
Wut kann ein Wegweiser zu unserenBedürfnissen sein
So oft haben wir gelernt, dass Wut nicht erwünscht ist und wir versuchen sie mal mehr, mal weniger erfolgreich zu verdrängen. Allerdings kann es sein, dass sie dann hinterrücks herausplatzt, wenn wir zum 10. Mal Ja gesagt haben, obwohl wir eigentlich Nein sagen wollten. Und dann trifft es meist einen anderen, der dafür nicht so viel kann oder wir wenden die Wut gegen uns selbst, weil wir es „schon wieder nicht geschafft haben“. Wenn wir aber lernen unsere Wut wahrzunehmen, kann sie uns ein Wegweiser sein, um hinzuschauen was gerade in uns los ist.
➳Sind wir über eine Grenzen von uns gegangen?
➳ Haben wir ein Bedürfnis von uns verdrängt?
➳ Ist jemand anderer über unsere Grenzen gegangen?
Ganz oft führt uns dieses Erforschen zu einem Schmerz. Denn es tat weh, wenn wir alsKind schreien gelassen wurden, weil man „Kinder nicht verwöhnen soll“, es tat weh, wenn wir mit bestimmten Gefühlen Ablehnung erfuhren, es tat weh, wenn wir im Krankenhaus nach der Geburt von unserer Mutter getrennt waren. Wut kann uns helfen für uns einzustehen. Manchmal braucht es einen sicheren Rahmen, um derWut in uns, die noch aus alten Verletzungen stammt, einen sicheren Raum zugeben und zu integrieren, damit nicht immer auch die alte Wut mit angegtriggert wird, wenn bestimmte Dinge geschehen. Aber dann kann Wut zu so etwas wie einer kraftvollen Überzeugung werden, einer großen Klarheit.
✯Was wäre, wenn du deine Wut nicht gleich „wegschicken” würdest?
✯ Was wäre, wenn du deine Wut ernst nimmst und sie dir eingestehen?
✯ Was wäre, wenn du tatsächlich Nein sagen darfst, ohne deshalb gleich egoistisch zu sein?
✯ Was wäre, wenn es dein Geburtsrecht wäre, dass du klare Grenzen haben darfst?
Zum Thema Wut gibt es übrigens ein ganz spannendes Interview mit der Traumaexpertin Dami Charf in unserem aktuellen „Wurzeln &Flügel Kongress 2.0: Familientrauma – Familienglück". Unten im Video bekommst du einen kleinen Vorgeschmack.
Und was die Zeit im Bauch und rund um die Geburt anbelangt, sind vor allem drei Interviews aus unserem ersten Kongress „FrüheTrennungserfahrungen und Traumata erkennen und lösen” spannend: mit Matthew Appleton, Bettina Alberti und Franz Renggli. Alle drei sind sie auf die Prägungen aus der ganz frühen Zeit, von der Zeugung bis zur Geburt spezialisiert. Aber auch darauf, wie wir entweder beiBabys Geburtstraumata lösen können, oder als Erwachsene emotionale Narben aus dieser Zeit integrieren können.
➳ Im Zuge unseres aktuellen Kongresses gibt es das Kongresspaket von letztem Jahr bis zum 7.7. für nur 39 € statt für 78 €.