28.9.2022

Was haben Wurzeln mit Flügeln zu tun und beides mit unserem Selbstwert?

Beginnen möchte ich mit ein paar Gedanken darüber, wofür Wurzeln und Flügel stehen können, wenn wir sie auf unser Menschsein beziehen. Wurzeln sind zum einen verbunden mit unserer Ursprungsfamilie, dem, wo wir herkommen, wo wir dazugehören. Was wir als Kinder, Säuglinge und im Mutterbauch erleben –  die wunderschönen, die mittelschönen, genauso wie die bescheuerten bis wirklich schmerzlichen oder schrecklichen Erlebnisse, was uns direkt oder indirekt vermittelt wird – prägt unser Gefühl des Verbundenseins mit uns und anderen. So prägen unsere physischen Wurzeln auch unsere emotionalen Wurzeln und den Kern unseres Selbstwertes

Wenn wir in uns nicht sicher verwurzelt sind, suchen wir zu viel Halt und Bestätigung im Außen.

Je nach dem, was wir am Anfang, sozusagen auf der Ebene der Wurzeln unseres SeinsBaumes erleben, werden wir uns später sicher und gut in uns und in der Welt verankert fühlen, werden wir in uns ein Zuhause haben. Oder aber unsere Wurzeln geben uns nicht genügend Halt und wir suchen später zu sehr im Außen nach Halt, Bestätigung und einem »zu Hause«. Zugehörigkeit, Austausch und Bestätigung sind natürlich ungemein wichtig. Aber wenn unsere inneren Wurzeln uns keinen sicheren Halt geben, dann brauchen wir das Außen einfach zu sehr. Bildlich kann man sich das so vorstellen, dass der Baumstamm und die Baumkrone leicht kippen, da die Wurzeln nicht stark genug sind und die umstehenden Bäume als Stütze gebraucht werden. 

Wenn wir unsere Entwicklung als Mensch wie die eines Baumes sehen, der aus einem Samen entspringt, Wurzeln nach unten und einen Keimling nach oben reckt, dann wird es deutlich, dass der Stamm des Baumes, die Blätter, Blüten und Früchte immer nur so kraftvoll sein können, wie die Wurzeln.

Kümmern wir uns achtsam um die Wurzeln eines Baumes, so wird der ganze Baum kraftvoller und gesünder

Wir können versuchen, den Stamm zu begradigen, die Baumkrone in eine bestimmte Form zu schneiden. Vielleicht hat das auch äußere Ergebnisse und sieht hübsch aus. Doch wenn die Wurzeln nicht gesund sind, nicht genügend Nahrung aufnehmen können, nicht genügend Halt geben, dann steht der ganze Baum auf unsicherem Boden und ein stärkerer Windstoß kann ihm zum Verhängnis werden oder aber er verkümmert langsam, weil er nicht genügend Nahrung bekommt. Wenn wir uns aber ganz bewusst den Wurzeln zuwenden, dann können wir selber dazu beitragen, das wir von unten nach oben gesunden.

Wenn wir als Menschen im Bauch der Mutter, während oder nach der Geburt und in unseren ersten Lebensjahren Trennungserfahrungen hatten, eine bewusste oder unbewusste Ambivalenz der Mutter oder der Eltern spürten, so konnten wir bildlich gesprochen unsere Wurzeln nicht sicher verankern, konnten wir unsere Bindungsphase nicht so vervollständigen, wie wir es bräuchten, um uns sicher in uns selber verankert zu fühlen. 

Eine sichere Bindung, ein Gefühl der Zugehörigkeit, gefühlt, gesehen und als ganzes Wesen erfasst zu werden, das schafft die Grundlage dafür, dass wir unser Potential leben können, wir mit uns selber liebevoll verbunden sind und wir nährende Beziehungen auf Augenhöhe mit anderen Menschen haben. 

Sind wir in uns sicher verankert, so haben wir ein sicheres Fundament, um in die Welt zu gehen, uns zu zeigen, unsere Gaben zu leben – unsere Flügel auszubreiten 

Wenn Kinder eine sichere Bindung bekommen, einen guten Nährboden für Selbstvertrauen, Selbstwirksamkeit und Resilienz, dann braucht es für das Ausbreiten der Flügel nicht viel: Nur das Da-Sein der Eltern, ihre offenen Arme, Ohren und ihre liebevollen und klaren Herzen. Dieses Zuhause ist der Nährboden dafür, dass sich die Gaben, die Liebe, der Abenteuergeist und die Lebensfreude der Kinder wie von selbst als Flügel entfalten können. 

Unser Anfang, unsere Wurzeln prägen uns und die frühen Erfahrungen vermitteln uns, ob wir uns grundlegend sicher oder unsicher fühlen. Das Gefühl der Unsicherheit tragen wir oft in unserem Körper, darin, dass unser Nervensystem sehr schnell in einen Stressmodus verfällt. Dadurch sind wir angespannt, können uns vielleicht schlechter konzentrieren und auch unsere Bedürfnisse nicht mehr richtig wahrnehmen. Aus der Sicht unseres Nervensystems geht es im Stressmodus immer ums Überleben. Das war damals als Säugling und Kleinkind richtig, und auch in der Zeit, als wir noch in Höhlen lebten und der Säbelzahntiger eine reale Bedrohung war. Aber heute als Erwachsene geht es in den meisten Fällen nicht mehr um Überleben. Dann wird diese unwillkürliche Stressreaktion unseres Nervensystems oft dazu führen, dass wir das Gefühl haben, einerseits aufs Gaspedal zu treten, aktiv zu sein uns vielleicht sogar besonders anzustrengen und gleichzeitig das Gefühl zu haben, nicht wirklich voranzukommen.

Äußerer Erfolg wird oft als Krücke dafür benutzt, nicht fühlen zu müssen, auf was für wackeligen Beinen wir stehen

Oder aber wir sind erfolgreich, setzen viel um, aber es kostet uns unglaublich viel Energie oder wir jagen von Erfolg zu Erfolg, Leistung zu Leistung, weil wir uns doch noch nicht so erfüllt fühlen, wie wir uns das wünschen, oder weil Innehalten sich unbewusst gefährlich anfühlt. Menschen, die bewusst oder bewusst nicht die Verankerung und Anbindung in der Kindheit bekommen haben die sie bräuchten, fühlen sich manchmal trotz äußeren Erfolges innerlich leer, oder haben das Gefühl, immer wieder durch Leistung ihren Wert beweisen zu müssen, oder sie scheitern immer wieder daran, etwas nicht zu Ende bringen zu können, sie geben sich selber in Beziehungen auf oder halten andere auf Abstand.

Das grundlegende Gefühl, nicht wirklich sicher zu sein, kann das wackelige Fundament dafür sein, auf Grund dessen sich äußere Erfolge schal anfühlen, oder dass wir immer wieder stagnieren, uns selber sabotieren oder eine tiefe Erschöpfung empfinden. Als Erwachsene haben wir allerdings auch die Chance, bewusst zu den Wurzeln zu schauen. Das braucht manchmal auch Mut, denn bildlich gesprochen ist es da in der Erde auch dunkel, man weiß nicht so recht, worauf man beim Graben stößt. 

Die Spannbreite unserer Flügel sollte getragen sein von der Kraft unserer Verwurzelung in uns selbst

Wenn wir aber für uns dran bleiben, unsere Wurzeln neu nähren, sie annehmen, zu uns holen, wirklich zu ihnen stehen, egal wie ausgefranst, vergammelt oder schwächlich sie an manchen Stellen sein mögen, dann setzen wir damit ein sicheres Fundament für unser zu Hause in uns. Und genau dieses Fundament braucht es, um die Flügel unseres Potentials, unserer Kreativität und auch unserer Spiritualität in ihrer ganzen Bandbreite aufzuspannen. 

Streben wir nämlich nach dem erhabenen Gefühl des »Fliegens«, indem wir in Spiritualität unser zu Hause suchen, oder in der Gemeinschaft, oder im Erfolg, dann wird das nicht das Loch in den Wurzeln stopfen können und dann sind wir nicht so ganz, so voll, so reich, so vielseitig so bunt, so UND, wie wir es eigentlich sein könnten. Unsere Flügel sollten kein Ersatz dafür sein, wenn wir uns wacklig auf den Füßen fühlen, sondern die Spannbreite unserer Flügel sollte getragen sein von der Kraft unserer Verwurzelung in uns selber, von der Liebe und Annahme unserer selbst, so wie wir sind. Und tatsächlich ist aus meiner Warte unser Menschsein etwas zutiefst heiliges und kostbares. Wenn wir unsere Wurzeln heilen, die im Keller verdrängten inneren Kinder der Verzweiflung, Wut und Hilflosigkeit zu uns holen, dann müssen wir kein “Ego” überwinden, um unsere Flügel auszubreiten, sondern dann breiten wir als Ganzes unsere Flügel aus. 

Muster, in denen wir heute feststecken, waren irgendwann einmal der Versuch mit einer Umwelt zurechtzukommen, die für uns nicht richtig war

Abschließend noch Mal zu der Frage, wie Wurzeln und Flügel mit unserem Selbstwert zusammenhängen. Das ist jetzt hier nur ganz vereinfacht gesagt, aber wenn wir ganz früh erleben, dass unsere Bedürfnisse nach Nähe, Liebe, Wärme, zärtlicher Berührung, Wertschätzung und Zugehörigkeit nicht so erfüllt werden, wie wir das bräuchten, dann gehen wir auf einer unbewussten Ebene davon aus, dass mit uns etwas nicht stimmt, dass wir nicht richtig sind. Vielleicht lebt das nur als eine ganz leise Stimme in uns, aber sie trägt dazu bei, ob wir das Gefühl haben, dass es unser Geburtsrecht ist unseren Platz hier in der Welt voll und ganz einzunehmen oder ob wir uns eher immer für unsere Existenz entschuldigen oder versuchen uns unseren Platz durch Leistung zu »verdienen«. 

Mit jedem Schritt, mit dem wir uns heute um unsere Bedürfnisse und Gefühle kümmern, mit dem wir unsere emotionalen Verwundungen im Bereich der Wurzeln liebevoll versorgen, wächst unser Selbstwert. Denn wenn wir unseren Gefühlen Aufmerksamkeit schenken, dann geben wir ihnen und damit uns selbst Wert. Wir sind es wert, uns um uns zu kümmern. Und das wiederum nährt unsere Wurzeln und macht den Stamm unseres Seins kraftvoller für weit ausladende Äste, für sicher getragene “Flügel”. Selbstwert, uns annehmen, bedeutet niemals perfekt sein zu müssen. Es geht darum, uns mit allem anzunehmen, den unangenehmen, dunklen Seiten, genauso, wie mit unseren Stärken unseren Gaben. Wenn wir in uns dieses »Und« halten können, dann verbinden wir oben mit unten, dann darf alles sein und dann können unsere Wurzeln tief wurzeln und unsere Flügel uns hoch hinaus tragen. Ein »Und« verbindet uns mit uns selber, macht uns Ganz. 

Es ist so wichtig, dass wir immer mehr verstehen, dass auch scheinbar kleine Situationen in der Kindheit eine große Auswirkung auf uns haben können. Ganz oft liegt die ursprüngliche Ursache dafür, dass wir heute mit unserem Leben, mit bestimmten Verhaltensmustern, mit Gefühlen von uns nicht zufrieden sind, uns vielleicht dafür verurteilen, ein »schräger Vogel« zu sein, in frühen Erfahrungen. Das zu verstehen ist keine Entschuldigung, dient nicht dafür zu sagen »sorry, ich kann nicht anders, meine Kindheit war halt so schlimm«. Nein, dieses Wissen, dieses Verstehen kann uns erstmal helfen, im Hier und Jetzt sanfter und liebevoller mit uns zu werden, zu verstehen, dass wir nicht falsch oder kaputt sind. Und das ist schon ein riesiger Schritt.

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