7.12.2023

Jemand braucht Hilfe – du rennst?

Jemand braucht Hilfe – du rennst? Vielleicht kennst du das. Auf jeden Fall kenne ich mich mit diesem Thema aus. Wobei zu helfen auf unterschiedliche Weise stattfinden kann, nicht nur dann, wenn jemand um Hilfe bittet. Für eine lange Zeit waren auszugleichen, zu vermitteln, hilfreich zu sein und Dinge in die Hand zu nehmen, wenn keiner sich kümmert Methoden, mit denen ich versuchte, mir meinen Platz in der Welt zu verdienen. Und so kann ich getrost sagen, dass ich mich in diesem Bereich durchaus gut auskenne, regelrecht darin bewandert bin.

Helfen kann absolut wertvoll sein. Es ist großartig, spontan zu sein und einspringen zu können, wenn jemand Hilfe braucht. Es ist eine Gabe, zupacken zu können, den Überblick zu bewahren, kreative Lösungen zu finden und Menschen oder Projekt zu unterstützen.

Aber:

➳ Springst du automatisch immer sofort ein?
➳ Weißt du, ob du in dem Moment wirklich helfen willst?
➳ Weißt du, wie wertvoll du bist, auch wenn du NEIN sagst?
➳ Kommen bei dir immer alle anderen zuerst?

Also, ich kann für mich schon mal sagen, dass ich oft sofort eingesprungen bin, sogar in der Schule, wenn ein Lehrer oder eine Lehrerin eine Frage stellte und keiner antwortete. Diesen Leerraum konnte ich schlecht aushalten und so habe ich mich halt gemeldet, habe den Raum gefüllt. Ich konnte mich hineinversetzen, wie es ist, wenn man eine Frage stellt und alle schweigen – als ob man in ein ein Nichts hineinspricht. Heute weiß ich, dass ich dieses Unbeantwortetsein, dieses allein und hilflos sein aus meiner frühen Trennungserfahrung durch die Adoption kenne. Und so kann ich auch gut verstehen, dass zu helfen, Antworten zu finden, Dinge zu regeln und möglichst kompetent zu sein, lange so wichtig für mich waren. Diese Verhaltensweisen haben mir viele Jahre als wertvoller Überlebensmechanismen gedient.

Wenn das Helfen ein Überlebensmuster für uns ist, dann ist es normal, dass »Nein« zu sagen einiges hochbringen kann – und dann dürfen wir sanft mit uns sein.

Um aber wirklich lebendig und in vollen Zügen zu leben, dürfen wir lernen, manche Überlebensmuster abzulegen – die Aspekte in uns, die beispielsweise das Helfen und für andere da zu sein so lange gehalten haben, endlich zu entlasten. Dafür dürfen wir innehalten und genau hinschauen bei uns. Und wir dürfen auch ausprobieren: Was, wenn wir Nein sagen? Was wenn wir nicht die oder der erste sind, die einspringen?

 

Das würde sich so befreiend und wunderschön anfühlen – könnte man meinen. Aber wenn das Helfen für uns ein guter Überlebensmechanismus war, um uns nützlich und liebenswert zu fühlen, dann könnte es sein, dass für uns einzustehen und eine Grenze zu setzen, sich anfangs so gar nicht gut anfühlt. Vielleicht werden wir dann mit inneren Urteilen über uns selbst konfrontiert, wie egoistisch wir seien, dass wir uns doch nicht so anstellen sollen, dass wir doch stärker sind, als wir meinen, dass wir herzlos seien und vieles mehr, was wir an Glaubenssätzen und Urteilen in uns tragen.

 

Persönlich kenne ich von früher die Vorwürfe herzlos zu sein und dass ich mich nicht so anstellen soll, weil ich doch stärker sei, als ich gerade vorgebe. Und wenn ich das Schreibe, dann fühle ich, wie mich das auch heute noch berührt, denn ein Nein ist nicht automatisch herzlos, ein „Ich kann gerade nicht“ ist manchmal einfach die Wahrheit und nicht ein sich drücken wollen. Übrigens kann es manchmal durchaus sein, dass man zu harte Grenzen setzt, dass man sich nicht traut zu sagen, »ich will nicht«, statt »ich kann nicht«. Wenn wir innerlich 100m Anlauf nehmen müssen, um uns zu trauen Nein zu sagen, dann kann das Nein manchmal mit etwas zu großer Wucht herauskommen. Dann dürfen wir einfach hinterher bei uns schauen und vielleicht mit demjenigen, der die Wucht des Anlaufs abbekommen hat sprechen und diese Anlaufwucht zu uns nehmen.

In Beziehungen jeglicher Art unter Erwachsenen, haben wir immer 100% Verantwortung für unsere 50% der Begegnungsfläche

 

Aber selbst wenn wir einfach nur klar sind, ohne Härte, ohne Wucht, kann es sein, dass es beim anderen als Ablehnung und Kälte landet. Denn je nachdem, was dieser Mensch für eine Geschichte hat, durch welche Erfahrungs- und Glaubenssatzbrillen er oder sie auf unser Nein blickt, wird das die Wahrnehmung färben. Für die Wahrnehmung des anderen können wir nicht die Verantwortung nehmen, diese 50% der Begegnungsfläche gehören zu 100% dem oder der anderen. Genauso wie unsere 50% der Begegnungsfläche zu 100%in unseren Verantwortungsbereich fallen.

Das Herausfordernde ist, dass wir ein Nein ganz oft als Ablehnung von uns als Ganzem empfinden, was oft aus frühen Kindheitsverletzungen kommt. Tatsächlich bezieht sich ein Nein aber häufig einfach auf eine Situation, auf eine konkrete Bitte, auf ein konkretes Bedürfnis, auf die gegebenen Umstände. Und wenn wir uns dann als Mensch abgelehnt fühlen, statt zu sehen, dass der oder die andere vielleicht einfach gerade nicht helfen kann oder will, dann kann das zu Konflikten führen. Das wiederum ist es, was viele davon abhält Nein zu sagen, weil sie Angst davor haben abgelehnt zu werden für ihr Nein. Um ein klares, liebevolles Nein sagen zu können und um ein Nein gut annehmen zu können, bedarf es eines Ankers in unserem Selbstwert und Selbstvertrauen.

 

Unter dem Helfen kann manchmal übrigens auch eine Arroganz liegen, die Meinung, dass es kein anderer so gut kann wie wir, oder dass es ohne unsere Hilfe nicht geht. Ups … und das bei diesem so »selbstlosen« Thema des Helfens! Selbstlos gibt es aus meiner Warte übrigens nicht, denn wenn wir etwas ohne Selbst täten, wer täte es dann? Und wir haben immer einen Gewinn aus dem was wir tun, auch, wenn wir uns »aufopfern«. Manchmal ist der Gewinn nicht offensichtlich für uns, weil wir uns oberflächlich vielleicht darüber beklagen, dass wir kaum zu unseren Sachen kommen, weil wir immer anderen helfen.

Aber wie schon oben gesagt, wenn Helfen eine Überlebensstrategie ist um sich wertvoll zu fühlen, dann ist der Gewinn beim Helfen der, dass wir uns dadurch wertvoller fühlen oder das Gefühl haben gebraucht zu werden. In meinem Beispiel oben beim Beantworten der Fragen in der Schule war es mein Gewinn, dass ich den Leerraum nicht aushalten musste. Da wir uns dieses Gewinns aber oft nicht bewusst sind, fühlt sich so manche Tat tatsächlich selbstlos an oder so, als würden wir uns aufopfern. Und das kann dazu führen, dass sich unter dem Helfersyndrom auch ein Groll aufstauen kann, den die anderen eventuell direkt oder indirekt durch die Blume zu spüren bekommen.

Übrigens tun sich Menschen, die dazu neigen immer erst anderen zu helfen, oft schwer damit, selbst um Hilfe zu bitten. Die Gründe dafür können viele sein, eine unsichere Bindung in der Kindheit, in der wir gelernt haben, dass auf andere kein Verlass ist. Oder der Versuch der Kontrolle, um sich ja nie hilflos und schwach zu fühlen.

Wer bist du, wenn dein SEIN an und für sich wertvoll und liebenswert ist?

Was für ein komplexes Thema! Es ließe sich noch unendlich viel dazu schreiben. Aber für heute möchte ich diesen Beitrag mit Fragen beenden. Fragen, die ich dich einlade durch die Augen deines Herzens zu lesen und in die Antworten hineinzufühlen, statt sie vom Kopf aus zu beantworten. SEI mit den Fragen, auch wenn du noch keine Antwort hast. Öffne den Raum mit Fragen und lass dich überraschen, was dieser Raum für dich bereithält.

 

♡ Wer bist du, wenn du helfen nicht brauchst, um dich wertvoll zu fühlen?
♡ Wer bist du, wenn du bewusst entscheidest, wo du helfen magst und wo nicht?
♡ Wer bist du, wenn du kein schlechtes Gewissen hast, wenn du Nein sagst?
♡ Wer bist du, wenn du aushalten kannst, jemanden enttäuscht zu haben, wenn du Nein sagst?
♡ Wer bist du, wenn du ganz bewusst zu etwas Ja sagst, auch wenn es eigentlich nicht passt, du aber genau weißt, dass dir deineWahl auch etwas gibt?
♡ Wer bist du, wenn du das innewohnende Recht hast zu anderen Nein zu sagen und damit Ja zu dir?
♡ Wer bist du, wenn du dir erlaubst auf dem Weg des Nein-Sagen-Lernens auch Fehler machen zu dürfen?
♡ Wer bist du, wenn du dein Herz liebevoll für den Schmerz in dir öffnest, den wir durch Helfen und nützlich sein versuchen wollen in Schach zu halten?
♡ Wer bist du, wenn dein SEIN an und für sich wertvoll und liebenswert ist?
♡ Wer bist du, wenn du »dich verschenken kannst«,weil du zuerst dich dir selbst geschenkt hast?

Wenn du noch mehr darüber lesen magst, wie kostbar es ist, in Fragen hineinzuleben, dann lies gerne meine Blogbeitrag dazu, der von einem Zitat Rainer Maria Rilkes inspiriert ist: »Eine Frage leben, statt auf Antwort zu drängen«

Ich wünsche dir eine wunderschöne Winterzeit, Momente der Stille, des Innehaltens und der Achtsamkeit mit dir selbst. Da ich gerade von Achtsamkeit spreche, hier noch ein Zitat von Pete Walker aus seinem Buch »Posttraumatische Belastungstörung. Vom Überleben zu neuem Leben«: Achtsamkeit bedeutet »sich ungestört Zeit zu nehmen, um sich seiner Gedanken und Gefühle vollständig gewahr zu werden, damit man darauf mit größererEntscheidungsfreiheit reagieren kann.« »Achtsamkeit ist eine Perspektive, diedie Fähigkeit zur Selbstbeobachtung mit dem Instinkt der Selbstliebe verknüpft.Es ist smoit die Fähigkeit, sich selbst von einem objektiven und sich selbstannehmenden Standpunkt aus zu beobachten.«

Um das Thema Nein sagen ging es übrigens auch in meinem Workshop »Von Missverständnissen und Streit zu Klarheit und Verbundensein« am 28.11.23. Schau dir so gerne die Aufzeichnung davon an. Bis zum 16.12.23 kannst du sie dir noch anschauen.

➳ Einfach hier klicken, dann kommst du zur Aufzeichnung.

Ab Minute 01:10:18 findest du übrigens eine EFT Klopfsequenz zum Thema Nein sagen.