Balance heißt nicht »alles gut« – sondern Raum für alles
Wir sehnen uns nach innerer Balance, innerem Frieden. Aber was bedeutet das eigentlich? Wo streben wir da nach einem perfektionistischen Ideal und stressen uns dadurch noch mehr? Und wie könnte eine innere Balance realistisch aussehen?
Wer kennt das nicht: Bilder von tiefenentspannten, lächelnden Menschen, die ganz in sich zu ruhen scheinen. Achtsamkeit, Meditation, Persönlichkeitsentwicklung – damit verbinden wir oft das Bild von innerer Balance und Frieden, bzw. die Hoffnung, sie darüber zu erreichen. Tatsächlich können all das Wege sein, um in ein inneres Gleichgewicht zu finden.
Balance heißt nicht, dass nichts mehr wackelt – sondern dass in uns Raum für alles sein darf.
Aber aus meiner Warte gibt es zwei wichtige Aspekte zu beachten: Erstens sollten wir uns klar werden, was innere Balance für uns bedeutet. Zweitens gilt es, sich bewusst zu sein, dass unser Weg zu innerem Frieden davon abhängt, was wir erlebt haben – wie viele unverarbeitete Erfahrungen oder Traumata wir in uns tragen. Für manche Menschen reichen Achtsamkeitsübungen, um den Alltagsstress zu regulieren. Andere brauchen mehr – nicht, weil sie etwas falsch machen oder nicht gut genug sind, sondern weil sich ein sanfter Wiesenhügel leichter besteigen lässt als der Himalaya. Frühkindliche Erfahrungen, wie etwa Bindungstrauma, führen oft zu einem daueraktiven Nervensystem. Dafür reichen – bildlich gesprochen – keine Turnschuhe. Die sind für den Spaziergang auf einen Hügel ausreichend. Wenn unsere Erfahrungen – die Anspannung unseres Nervensystems – eher einem hohen Berg entsprechen, braucht es mehr »Ausrüstung« und Vorbereitung.
Nicht jede Strecke ist ein Hügel: Manche Wege führen durchs Gebirge – und das ist ein Unterschied!
Innere Balance ist aus meiner Sicht nicht nur Gelassenheit, Glück oder »nie wieder getriggert werden«. Für mich hängt Balance immer mit einem UND zusammen: der Fähigkeit, mit unterschiedlichen Gefühlen und Lebensereignissen umgehen zu können und dafür Raum zu haben. Lebendigkeit bedeutet die ganze Bandbreite – auch getriggert zu sein und hinterher aufzuräumen, zu fühlen und zu integrieren, was da ist.
Innere Balance ist somit nicht stoische Ruhe. Die haben wir oft dann, wenn wir Meister oder Meisterin darin geworden sind, unangenehme Gefühle zu verdrängen – und damit auch die angenehmen zu deckeln. Die Balance, von der ich spreche, ist ein innerer Raum für Lebendigkeit. Sie ist wie eine Birke, die verankert bleibt, auch wenn der Sturm sie beutelt.
Verdrängen deckelt nicht nur Schmerz – sondern auch Freude.
Es ist spannend, wie wir Worte und Begriffe interpretieren. Vor nicht allzu langer Zeit hat mich die Aussage „Irgendetwas ist hier noch nicht in Balance“ getriggert, ein doch eigentlich recht unschuldiger Satz. – Aber ich greife vor. Lass mich am Anfang der kleinen Geschichte beginnen: Regelmäßig treffe ich mich in einem Kreis von Kolleginnen, in dem es vor allem um die EFT-Klopftechnik und die Arbeit mit inneren Anteilen geht (orientiert am Internal Family Systems-Modell von Richard Schwartz) und wie sich beides gut verbinden lässt.
Manchmal leitet eine von uns die Gruppe in etwas an, was sie neu gelernt hat. In diesem Fall war es eine Gruppenanleitung mit der Klopftechnik. Jede von uns nahm sich eine Herausforderung vor. Für mich war es das Gefühl, hin- und hergerissen zu sein zwischen Pflichtgefühl und einem inneren Anteil, der sehr früh Verantwortung übernehmen musste – und so gar keine Lust auf irgendetwas mit Pflicht hatte.
Zwischen Pflicht und Widerstand einen Boden finden – genau dort beginnt Balance.
Durch mehrere Runden des Klopfens auf sogenannten Akupressurpunkten, während der Fokus auf das mit der Herausforderung verbundene Gefühl, die Empfindung oder einen zugehörigen Glaubenssatz ruht, entsteht Veränderung. Oft öffnet sich eine neue Perspektive, Erleichterung tritt ein. An diesem Tag waren wir alle nach einigen Runden zwar an einem anderen Platz, und doch blieb da etwas wie ein Hadern mit dem, wo jede von uns stand.
Der nächste Schritt in dem angeleiteten Prozess war der, nun einen ausgleichenden, balancierenden Satz für unsere Ausgangssituation zu finden. Als wir diese Sätze besprachen, fühlten sie sich noch unrund an. Meiner ging in die Richtung: „Was wäre, wenn es okay ist, wie ich mich fühle?“ Der Satz an sich kann eine Tür öffnen – zur Akzeptanz dessen, was ist, und damit zu Balance. Doch die Energie, die bei mir mitschwang, war eng, angestrengt. Das war – spannender Weise – bei allen so. In dem Moment sagte die Kollegin, die die Gruppe anleitete: »Irgendwas ist hier noch nicht in Balance.« Das ist der Satz, der mich getriggert hatte.
Warum hat er mich getriggert? Weil ich ihn so interpretiert habe, als müsste »in Balance sein« bedeuten: superpositiv, total ausgeglichen und »alles gut!«. Ein bisschen klang es auch so bei meiner Kollegin – so, als müssten wir doch bitte an einem positiveren Platz sein. Nachdem ich sagte, dass dieser Satz in mir einen Widerstand auslöst, hielt meine Kollegin inne und meinte: »Vielleicht brauchen wir noch eine Runde, in der einfach alles da sein darf, so wie es gerade ist. Es geht nicht darum, dass wir alle eine tolle, positive ›Balance-Aussage‹ finden müssen.«
Nicht mehr verändern wollen – da sein lassen: Dort beginnt oft der Wandel.
Hättest du dabeigesessen, du hättest gespürt, wie alle sich entspannten. Nach dieser weiteren Runde mit unserem Unrundsein öffnete sich ein Raum von innerer Balance: Frieden damit, dass uns etwas belastet, dass da eine Herausforderung ist – und dass Integration nicht immer heißt, »alles wieder gut!«. Was, wenn der Wind oder Sturm, der uns gebeutelt hat, uns noch etwas zerzaust zurücklässt – und wir damit sein dürfen?
Tatsächlich fand jede von uns danach einen stimmigen, balancierenden Satz. Meiner war: »Ich erlaube mir, ich zu sein.« Ich war okay damit, dass es in mir einen Anteil gibt, der verständlicherweise keine Lust auf das hatte, was anstand. Und ich war okay damit, es trotzdem zu tun, weil es mir wichtig war. Ich gab mir die Erlaubnis, dabei kein Sonnenschein sein zu müssen – und dazu zu stehen, dass ich mich gerade nicht so gut fühle. Es sind nicht die Worte allein, sondern der Raum, der darin liegt, der den Unterschied macht.
Ich erlaube mir, ich zu sein.
Manchmal führt ein Prozess uns an einen Ort von Leichtigkeit, Erleichterung oder stillem Glück. Manchmal entsteht eine achtsame, warme Nüchternheit – ein Platz, von dem aus wir anerkennen, was ist, ohne darunter zu leiden. Ein Ort des Einverständnisses damit, dass es herausfordernde Zeiten, Reaktionen und Gefühle gibt. Das mag sich nicht so erhebend oder prickelnd anfühlen – aber es hat eine enorme Kraft und Nachhaltigkeit, diese ganz besondere Nüchternheit.
Meine Kollegin fand abschließend ganz wunderbare Worte für das, was wir gemeinsam erlebt haben: »Mir ist nochmal bewusster geworden, dass es nicht um toxische Positivität oder ein ›Reparieren‹ geht – sondern darum, wieder in Balance zu kommen, indem Dinge in den Fluss kommen. Ich hatte wahrgenommen, dass sich bei dem ersten Versuch der Balance-Sätze noch etwas wie aufgeladen und unsicher anfühlte – und das wollte ich zuerst ändern. Aber es war das Bleiben mit dem, was die Veränderung brachte. Dadurch geschah der Wandel hin zu Akzeptanz und innerem Frieden. Es fühlt sich so gut an, nichts reparieren zu müssen, sondern allem Raum zu geben.« Das ist für mich innere Balance.
Balance entsteht, wenn Dinge wieder in Fluss kommen – nicht, wenn wir sie passend machen.
Vielleicht hast du ein Gefühl dafür bekommen, was ich mit innerer Balance meine. Manches lässt sich eher gefühlt erfassen, als nur über den Verstand begreifen. Und innere Balance, innerer Frieden gehören für mich mit dazu. Denn sie verbinden zwei oder mehrere Seiten in uns und kommen von der Gewissheit, dass das Leben Wellentäler und Wellengipfel hat und alles zu uns gehört. Balance lässt sich nicht wie auf einer Waagschale messen, braucht kein „positives Gegengewicht“ zu etwas schmerzlichem. Die Waagschalen sind in Balance, wenn wir nichts in uns Bekämpfen und uns weder in Glückseligkeit flüchten, noch im Leid versinken.
Hier ist noch ein schönes Zitat von Jon Kabat-Zinn, das dem Gefühl innerer Balance für mich entspricht: »Du kannst die Wellen nicht aufhalten, aber du kannst lernen zu surfen.«
Ist es immer einfach, diese innere Balance zu finden? Aus meiner Warte definitiv nicht immer – und wie oben schon gesagt, ist das auch abhängig von dem, was wir erlebt haben. Aber wenn wir lernen, was wir tun können, um unser Nervensystem zu regulieren, um mit uns in Verbindung zu bleiben und vielleicht auch Erfahrungen aus der Vergangenheit aufzuarbeiten und auf liebevolle Weise mit uns in Beziehung zu gehen – dann entsteht dieser innere Raum der Balance.
Regulation, Verbindung, Zuwendung – daraus wächst ein tragfähiger innerer Raum.
Erlaube dir kleine Schritte. Finde deine eigene Definition, dein Gefühl für Balance. Meine Worte sind meine – manches mag für dich passen, manches würdest du anders formulieren. Du bist einzigartig, und alles, was wir hören oder lesen, dürfen wir für uns überprüfen. Auch das ist Balance: offen sein für das, was andere sagen – sogar eine »Autorität« – und uns Raum und Zeit geben, zu erforschen und zu erfühlen, was unsere Position ist. Vielleicht merkst du Übereinstimmung, vielleicht spürst du Unterschiede oder das etwas gar nicht zusammen passt. Beides darf nebeneinander bestehen – auch wenn es nicht immer leicht ist Diskrepanzen auszuhalten.
Wenn wir jedoch einem Ideal von innerem Frieden nachlaufen, ohne zu klären, was wir damit meinen, kann es passieren, dass wir glauben, wir müssten über den Dingen stehen, es müsste uns immer gut gehen, nichts dürfte uns triggern. – OK, wenn ich das hier so schreibe wirst du wahrscheinlich sagen, dass du das nicht so siehst, weil das ja nun doch etwas übertrieben klingt. Aber spüre mal hin, wo hast du vielleicht doch ein solches Bild, ein so hehres und irgendwie unerreichbares Hochglanz-Ideal, dem du eventuell nur deshalb nicht auf die Schliche gekommen bist, weil du es noch nicht konkret ausgesprochen oder aufgeschrieben hast. So ganz alleine für sich, in irgendwelchen Dauerschlaufen unseres Gehirns, gewinnt nämlich so manche Auffassung, so mancher Glaubenssatz sein Eigenleben. Die bewusste Auseinandersetzung damit öffnet uns denn Raum nochmal neu hinzuschauen.
Das Ideal im Kopf prüfen – statt ihm hinterherzulaufen.
Innere Balance ist kein finales Ziel, sondern eine Beziehung zu dir selbst. Sie wächst, wenn du dich dem Leben mit offenen Augen und einem weichen und zugleich kraftvollen Herzen zuwendest – auch dann, wenn der Wind noch bläst. Gib dir Zeit, bleib dir zugewandt und nimm die kleinen, echten Momente von Frieden ernst: Sie sind die Wurzeln deiner Standfestigkeit.
Fragen für deine eigene Erforschung
➳ Was bedeutet »innere Balance« für dich – jenseits von Bildern und Idealen?
➳ Woran merkst du, dass du versuchst, unangenehme Gefühle zu verdrängen (und damit auch die angenehmen langfristig zu deckeln)?
➳ In welchen Situationen erlaubst du dir – verankert in Selbstmitgefühl –, dass es herausfordernd und schwer sein darf?
➳ Wo läufst du einem Ideal von innerem Frieden nach und fühlst dich dadurch ungenügend?
➳ Welche Methoden hast du an der Hand (oder welche Unterstützung holst du dir), um schmerzliche Gefühle sicher zu halten und zu integrieren?