26.10.2023

Warum es heilsamer ist Gefühle zu fühlen, statt sie zu meistern

„Reiß dich zusammen!“, „Beiß die Zähne zusammen und durch!“,„Meistere deine Gefühle!“, „Lasse deine Gefühle und deine Vergangenheit los!“– all diese Sprüche sind gesellschaftlich weit verbreitet. Vielleicht hast du dir manche davon angeeignet. Vielleicht aber hast du auch die schmerzliche Auswirkung gespürt, die diese Sätze haben können. Oder aber du fühlst dich manch mal innerlich zwischen diesen von dir verinnerlichten Sätzen und denGefühlen, die einfach nur gefühlt werden wollen, wie zerrissen.

 

Inneren Frieden, Gefühle der Freude und der Liebe kommen auf natürliche Weise auf, wenn wir uns für all unsere Gefühle öffnen. Versuchen wir zu Freude und innerem Frieden zu gelangen, indem wir unangenehme Gefühle in uns nicht haben wollen, versuchen sie zu meistern und zu kontrollieren, so können wir aus meiner Warte nicht in die ganze Fülle unserer Liebe, unserer Freude und unseres inneren Friedens eintauchen. Öffnen wir uns aber für all unsere Gefühle und nehmen uns zusätzlich manchmal bewusst die Zeit zu fühlen, worüber wir uns freuen, wofür wir dankbar sind, dann unterstützen wir die ganze Strahlkraft des Regenbogens unserer gesamten Gefühlspalette.

 

Die rohen Gefühle wie etwa Schmerz, Angst, Trauer, Scham, Wut oder tiefer Einsamkeit zu fühlen hat nichts damit zu tun, dass wir uns in unserer Vergangenheit suhlen oder schwach sind. Gefühle wirklich fühlen, mit ihnen in Beziehung gehen, bedarf unserer inneren Größe, unseres Herzensraumes. Mit unseren Gefühlen in Beziehung gehen, ihnen inneren Fühlraum zu geben, das braucht auch ein Metaperspektive, das gefühlte Wissen, dass unsereGefühle uns nicht zu 100% ausmachen, sondern ein Teil von uns sind – auch wenn es sich manchmal so anfühlen mag, als würden sie uns ganz ausfüllen. In diesem Zusammenhang kann das Konzept von inneren Kindern und Beschützern sehr hilfreich sein.

 

Wenn wir Gefühle verarbeiten konnten, brauchen sie sich nicht in uns aufstauen – dann ist die Vergangenheit wirklich vergangen und holt uns nicht immer wieder ein.

 

Allerdings lernen wir beim Aufwachsen in den seltensten Fällen unsere Gefühle zu fühlen, ihnen den Raum zu geben den sie brauchen, damit wir sie verarbeiten können. Verarbeiten bedeutet hier konkret, dass Gefühle fließen dürfen, in einem gehaltenen und geschützten Rahmen. Als Kinder brauchen wir dafür eine erwachsene Bezugsperson als Gegenüber. Denn so früh in unserem Leben können wir uns noch nicht selbst regulieren, können wir nicht gleichzeitig Raum für unsere Gefühle halten und sie fühlen. Wir brauchen Erwachsene, die diesen herzoffenen Raum für uns und unsere Gefühle haben, die intensiven Gefühle nicht scheuen und dadurch in sich selbst zentriert bleiben.

 

Wenn es diesen sicheren Beziehungsrahmen gibt, dann erlebenKinder, dass ihre Gefühle anschwellen können, sie diese Gefühle durchleben können und diese dann anschließend wie von selbst wieder abebben. Wenn Kinder einen solchen Raum bekommen, dann können sie ihre gefühlte Reaktion auch auf sehr schwierige oder sogar potentiell traumatische Erfahrungen „verarbeiten“. Die Gefühle können dann ganz da sein. Und alles, was ganz da sein kann ist irgendwann fertig. Dann ist das Gefühl „verarbeitet“ und es staut sich nicht irgendwo in uns an. Wenn ein Ereignis auf diese Weise verarbeitet werden kann, dann nehmen wir es nicht mit in die Zukunft. Es hatte seinen Platz und das auslösende Ereignis ist tatsächlich Vergangenheit.

 
Wenn Gefühle verarbeitet werden können, führt das zu Resilienz und einer großen Lebendigkeit, die weder die Tiefen schmerzlicher Gefühle scheut, noch die Höhenund Weiten freudvoll glücklicher Gefühle.

 

Werden wir hingegen als Kinder mit unseren Gefühlen alleine gelassen, oder werden gemaßregelt, dass wir uns gefälligst zusammenreißen sollen, oder dass es „doch gar nicht so schlimm ist“, dann werden wir nicht in der Ganzheit unserer Gefühle empfangen. Wir erleben die Ablehnung bestimmter Gefühle und lernen mit der Zeit, diese Gefühle zu unterdrücken, um weiter geliebt zu werden, um die überlebensnotwendige Beziehung zu den Eltern oder Bezugspersonen aufrecht zu erhalten. Wir lernen mit bestimmten Gefühlen in uns selbst so umzugehen, wie früher mit uns umgegangen wurde, wenn wir diese Gefühle fühlten.

 

Da Kinder sich noch nicht selbst regulieren können, müssen sie Gefühle abspalten, wenn kein Gegenüber da ist, das ihnen dabei hilft, in ihren Gefühlen so empfangen zu werden, dass sie sie integrieren können, sie abebben können und Raum für den nächsten Moment machen. Wenn Gefühle verarbeitet werden können, führt das zu Resilienz und einer großen Lebendigkeit, die weder die Tiefen schmerzlicher Gefühle scheut, noch die Höhen und Weiten freudvoll-glücklicher Gefühle.

 

Das Verdrängen von Gefühlen wird gesellschaftlich belohnt – und doch kostet es uns Kraft

Manchmal lernen wir also schon sehr, sehr früh unsereGefühle zu meistern, zu kontrollieren, in die hinterste Ecke unseres Seins zu verbannen. Und in den meisten Fällen werden wir dafür von der Gesellschaft auch noch belohnt, als vernünftige Menschen, die nicht überreagieren. Aber sind solcherart gemeisterte Gefühle integriert und im Fluss, oder bedarf es unserer beständigen Wachsamkeit (wenn auch meistens unbewusst) und viel Kraft, diese ungewollten und ungeliebten Gefühle weiterhin unterdrückt zu halten?

 

Was, wenn das Streben nach Perfektion der unbewusste Versuch ist, ja nie wieder das niederschmetternde Gefühl der Ablehnung und des nichtgut genug seins zu fühlen? Was, wenn unter der Daueranstrengung, es allen recht zu machen der Versuch liegt, geliebt zu werden, weil etwas in uns sich nichtliebenswert und gewollt fühlt einfach weil wir sind? Was, wenn das Jammern darüber, wie schrecklich das Leben ist und alle immer ungerecht zu uns sind, der hilflose Versuch ist, das echte Gefühl des Opferseins nicht fühlen zu müssen, das wir als Kind vielleicht erlebt haben?

 

Übrigens ist weder Perfektionismus, noch Jammern, noch der Versuch über Leistung geliebt zu werden etwas an und für sich verurteilungswürdiges. Es sind Überlebensmechanismen, Kompensationsmuster, die wir aus der Not heraus entwickelt haben. Können diese Muster uns als Erwachsene im Weg stehen? Absolut. Aber statt sie zu bekämpfen oder zu meistern, gilt es neugierig herauszufinden, warum wir diese Muster entwickelt haben und was sie in uns schützen.

 

Kompensationsmuster bauen immer auf unseren Gaben auf und es ist eine Befreiung, wenn wir diese nicht mehr nutzen müssen, um ungewollte Gefühle in Schach zu halten.

 

Wenn wir lernen, mehr und mehr vom Herzensplatz unseres Erwachsenseins zu kommen, es zu wagen nicht perfekt zu sein, dann können diese Aspekte zurücktreten, ihre Rolle ablegen und endlich Ruhe finden. Wenn wir unsere Gaben nicht dafür einsetzen müssen bestimmte Gefühle zu meistern und andere Gefühle möglichst ja nie an die Oberfläche kommen zu lassen, dann sind wir frei, sie voller Freude und mit Leichtigkeit zu leben.

 

Was uns als Erwachsenen allerdings manchmal im Wege steht, uns unseren Gefühlen zuzuwenden und die Auswirkungen dessen zu fühlen, was wir erlebt haben, ist das Verständnis für die anderen und das hehre Ziel zu verzeihen, um sich von der Vergangenheit frei zu machen. Auch wenn es absolut richtig und wichtig ist zu verstehen, dass jeder Mensch sein Paket oder Päckchen hat, das zu bestimmten Verhaltensweisen führt, ist es maßgeblich wichtig, dieses Verständnis nicht dafür zu nutzen, um unsere Gefühle in Schach zuhalten oder zu relativieren. Vielleicht sagen wir uns auch, dass es ja nicht persönlich gemeint war, die andere Person ihr Bestes gegeben hat – halt nicht anders konnte. So sehr das stimmt, müssen wir aufpassen, diese Wahrheit nicht als Bollwerk gegen unsere eigenen Gefühle zu nutzen.

 

Wenn wir unsere Gefühle fühlen, ohne sie durch Verständnis für andere zu relativieren, kommen wir an einen Platz inneren Friedens und einem herzoffenen Verständnis für andere und uns selbst.

 

Aus meiner Warte geht es darum, die Auswirkungen vonEreignissen in der Kindheit, um die Geburt herum oder noch im Bauch absolut persönlich zu nehmen. Nicht als der oder die Erwachsene, die wir heute sind, sondern für das Kind, das Baby, der Embryo, der wir mal waren. Dann dürfen neben dem Schmerz und der Hilflosigkeit des Kindaspektes in uns auch Wut und Empörung gegenüber den Bezugspersonen sein. Eine Wut, die aus dem Empfinden heraus kommt, dass das, was geschehen ist, nicht richtig war. Das bedeutet definitiv nicht, diese Wut gegenüber den Bezugspersonen rauszulassen, sondern lediglich in uns Raum dafür zu haben, vielleicht sogar in einem begleiteten und sicheren Setting.

 

Wenn wir den Raum in uns für den sehr persönlichen Schmerz des nicht gewollt seins, der Trennung, des ignoriert werdens fühlen und auch die Empörung über das Unrecht, dann kommen wir aus unserem Herzen heraus zu einem inneren Frieden. Dann können wir auch das größere Bild halten, dass unsere Bezugspersonen, unsere Eltern uns unschuldig nicht alles geben konnten. Dieses Verstehen aber schließt nichts aus und kommt aus einem echten inneren Frieden mit der Vergangenheit.

 

Widerstände gegenüber Veränderung gilt es zu würdigen, denn sie sind oft nur Ausdruck einer darunter liegenden Angst.

 

Sich so auf seine Gefühle einzulassen, sich selbst ernst zunehmen, zu lernen, klarere Grenzen zu setzen, sich nicht mehr dauernd anzupassen, zu wirklichem Frieden mit der Vergangenheit zu gelangen, das ist ein mutiger Weg. Auf diesem Weg können wir auch Widerständen begegnen, Ablenkungsmanövern, „keine Zeit“, um uns mit uns selbst liebevoll und achtsam auseinander zusetzen. Und auch das ist nicht schlimm. Vielleicht ist es lediglich der Ausdruck vor Angst – Angst vor Veränderung. Veränderung nämlich führt uns ins Ungewisse und mit nicht Wissen können wir lebendig und beweglich nur von unserem erwachsenen Herzensplatz aus umgehen. All die Kompensationsmuster und Überlebensstrategien aber, die uns so lange geholfen haben in der Welt zu funktionieren, haben Angst vor der Ungewissheit der Veränderung. Und so gilt es die Widerstände wahrzunehmen und manchmal auch zu ehren, bevor wir den nächsten Schritt tun.

 

Gleich hier unten findest du eine kleine EFT Klopfsequenz, um diesen Widerständen liebevoll Raum zu geben und dabei auch gleich dein Nervensystem zu regulieren. Du bist es Wert, dass all deine Gefühle Raum bekommen!