25.3.2020

Eine Frage leben - statt auf Antwort zu drängen

Keine Antwort auf ein Problem zu haben, damit zu leben nicht zu wissen, ist für uns Menschen oft sehr herausfordernd. Rainer Maria Rilke spricht auf ganz wunderbar weise Art zu genau diesem Dilemma. Geduld rät er einem jungen Dichterkollegen und gibt ihm den Rat, eine Frage zu leben, statt auf eine Antwort zu drängen.

Bevor ich nun auf Rilkes Gedicht komme, möchte ich die Frage vorausschicken, wie ein offenes Fragezeichen dabei helfen kann, sich selber besser kennen zu lernen.

Die Hinwendung zu sich selbst beginnt mit Neugierde, mit der Frage, warum wir mit bestimmten Themen oder Gefühlslagen ringen. Warum überkommt mich immer wieder unerklärlicher Schmerz in Abschiedsmomenten, warum fühle ich mich klein und verstummt im Angesicht von Autoritätspersonen, warum ziehe ich Partner mit den immer gleichen Mustern an? Die Ungeduld oder der Anspruch an sich, möglichst schnell Antworten und Lösungen zu finden, nimmt der Frage in gewisser Weise den Atemraum. Antworten haben ihre ganz eigene Zeit. Und eine Frage mit Offenheit zu stellen, beinhaltet gleichzeitig ein Annehmen der derzeitigen innerenRealität.

Alles, was möglichst schnell aus dem Weg geräumt werden soll, kommt meistens durch die Hintertür oder in anderem Gewand wieder herein. Offene Fragen sind unser sachter Türöffner zu uns selbst. Mit ihnen nähern wir uns, ohne uns zu bekämpfen. Fragen schaffen Raum, in den wir hineinwachsen können.

Fragen sind der sachte Türöffner zu uns selbst

Nun aber zurück zu einigen Zeilen aus einem der Briefe Rainer Maria Rilkes an den jungen Dichter Franz Xaver Kappus vom 16. Juli 1903. Veröffentlicht sind seine Worte in »Briefe an einen jungen Dichter«:

(...) und ich möchte Sie, so gut ich es kann, bitten, lieber Herr Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst lieb zu haben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben könnten. Und es handelt sich darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein.

Dies sind so zeitlos wunderbare Worte, die eine tiefe Weisheit in sich tragen und ein Appell an Geduld und Sanftheit im Umgang mit uns selbst sind. Statt mit Ungelöstem in unseren Herzen zu hadern und zu ringen, gilt es erst einmal mit jenem Ungelöstem zu sein und wirklich wahrzunehmen, was uns innerlich bewegt. Wir sind darauf getrimmt, immer gleich Antworten und Lösungen haben zu wollen und vergessen dabei oft, unserer inneren Uhr, unserer eigenen Weisheit zu vertrauen.

Weisheit bedeutet, es auszuhalten nicht zu wissen

Diese innere Weisheit drückt sich für mich nicht darin aus, immer Antworten parat zu haben, sondern vielmehr in der Kunst damit zu sein, keine Antwort zu haben, nicht zu wissen, was als nächstes zu tun ist. Oft streben wir danach, das »richtige« tun zu wollen. Weisheit bedeutet, dass wir nicht schlussendlich wissen können, was das »richtige« ist und dass wir uns dessen bewusst sind. Nur die Erfahrung, das Leben werden uns zeigen, ob bestimmte Schritte in unserem Leben »richtig« für uns sind.

Antworten zu leben, bedeutet, sie von innen heraus wachsen zu lassen

Wenn wir zum Beispiel auf einen tiefen Schmerz als Ungelöstem in unserem Herzen stoßen, so wird eine erste Reaktion vielleicht sein, eine Antwort, eine Lösung darauf finden zu wollen. Aus der Kindheit kennen wir vielleicht Sätze wie »ist doch nicht so schlimm« oder »wird schon wieder«. Das sind Antworten, die wir oft sogar gelernt haben umzusetzen. Aber eine wirklich gelebte Antwort ist das nicht. Für mich sind gelebte Antworten solche, die alle Ebenen in uns ansprechen und nicht solche, wo wir lernen tiefe Gefühle wieder zur Seite zu schieben »weil es ja nicht so schlimm ist«. Wir können das durchaus vom Kopf her steuern aber wir verlieren uns dabei auch ein Stück.

Mit der Frage leben öffnet uns – auf eine Antwort dringen, kann uns verschließen

Begegnen wir nun dem tiefen Schmerz in uns ganz bewusst mit einem Fragezeichen, so schafft dies Raum. Die Offenheit, den Schmerz nicht zu analysieren oder zu erklären, sondern erstmal einfach als Schmerz anzunehmen und zu fühlen, ist der erste Schritt zu einer heilsamen Beziehung zu diesem Gefühl. Das Fragezeichen in uns, welches nicht nach Lösung strebt erlaubt es, dass wir uns mit dem Gefühl verbinden, statt uns davon zu distanzieren. Und diese Beziehung, diese Offenheit nicht zu wissen, erlaubt es, dass Gefühle sich über die Zeit hinweg in uns integrieren können.

Immer wieder bin ich beeindruckt von Rilkes Weisheit. Und ich hoffe, dass dieser Beitrag den Funken der Inspiration mit offenen Fragen zu leben vielleicht überspringen lässt.